Schublade

Wenn ein Kind, das schwer mehrfachbehindert zur Welt kommt, eine Anerkennung der Versicherung bekommt, macht dies das Leben wenigstens in finanzieller Hinsicht etwas einfacher. Leider gibt es immer noch viel zu viele Kinder, die diese Anerkennung nicht bekommen. Wir hatten dieses Glück und deshalb ging es unserer Familie finanziell einigermassen okay - zumindest so lange unser Sohn minderjährig war.

Trotzdem ist es praktisch unmöglich mit einem schwer mehrfachbehinderten Kind ein halbwegs normales Leben zu führen oder berufstätig zu sein. Zumindest können das nicht beide Elternteile. Das heisst, dass es trotz Unterstützung immer schwierig ist, als Familie zu existieren. Oder zu sparen - auch nicht für die Altersvorsorge!

Spätestens ab dem 18. Geburtstag funktioniert nichts mehr - zumindest dann nicht, wenn man das eigene Kind betreut und pflegt und dieser junge Mensch derart komplexe gesundheitliche Einschränkungen hat, dass sogar Pflegedienste die Unterstützung ablehnen, weil das ausgebildete Personal die Verantwortung nicht übernehmen will. Dieser junge Mensch wird von unserem "System" exakt zum 18. Geburtstag in eine Schublade gesteckt, in die er mit stopfen und stossen nicht passt!

Die vertraute Umgebung muss gewechselt werden (Schule/Wohnheim), damit auch Vertrauenspersonen, Therapeuten. Und auch die medizinische Versorgung muss anders geregelt werden. Man hat von einem Tag auf den anderen keine Ansprechpersonen mehr. Alles läuft anders. Der junge Mensch versteht es aufgrund seiner Besonderheiten nicht wirklich. Spürt aber ganz intensiv, dass alles anders ist. Nichts läuft rund. Es bleibt aber keine Zeit in seinem kurzen Leben, um sich auf diese grundlegenden Veränderungen einzustellen. Alles geht zu schnell. Auch die Eltern haben plötzlich keine vertrauten Personen mehr für den so wichtigen Austausch.

So wollen es unsere Gesetze. Regeln. Weisungen. Wo aber steht der Mensch? Inklusion? Gleichberechtigung? Selbstbestimmtes Leben? Was viele nicht wissen, weil sie es nie erleben mussten: das sind nur schöne Worte in der Theorie aber die Praxis sieht ganz anders aus!

Das Jahr, in dem unser Sohn 18 Jahre alt wurde, war auch das Jahr in dem er gestorben ist. In diesem Jahr hat er zusätzlich zu den Auslagen, die von seiner Rente oder Versicherungen gedeckt waren, Auslagen in der Höhe von 25'000 Franken generiert, die wir als Familie alleine stemmen mussten. Und wir sprechen hier nicht von alltäglichen Auslagen wie Ferien, Kleider, Versicherungen, Handy, Coiffure, Hobbies, Ausgang oder was auch immer ein "normaler" junger Mensch benötigt. Nein, wir sprechen von Auslagen, die einfach nur deshalb anfallen, weil ein Kind mit einer unheilbaren Krankheit zur Welt gekommen ist und nicht in die Schublade passt, in die es vom "System" versorgt werden soll. Es gibt keine individuellen Lösungen. Es gibt nur die Standard-Lösung, die das Gesetz vorsieht. Egal, ob ein junger Mensch - und damit auch die ganze Familie - darunter leidet.

Wir mussten, um die Würde unseres Sohnes kämpfen. Darum kämpfen, dass er vertraute Personen um sich haben darf. Menschen, die ihn kennen und verstehen. Dabei entsteht ein Karussell: Das eine Amt schiebt es dem anderen zu und dieses schiebt es weiter oder wieder zurück.  Gerade wie es passt. Die zuständigen Personen sind ausgerechnet jetzt nicht erreichbar oder man steckt mitten in der Umstrukturierung und die Zuständigkeit ist leider noch nicht neu definiert.

Wir haben den Kampf gegen die Schubladisierung verloren - auch, weil wir einfach keine Kraft mehr hatten zum Kämpfen und die letzten Monate mit unserem Sohn geniessen wollten. 

 

Haben Sie schon einmal davon gehört, dass ein gesunder junger Mensch das Gymnasium verlassen muss, weil er 18 Jahre alt wird? Oder wird von einem gesunden jungen Menschen verlangt, dass er zu Hause auszieht und seine Familie nicht mehr sehen darf, weil er erwachsen ist?

 

Erfreulicherweise gibt es Stiftungen, die helfen. Auch wir hatten Glück und ein Teil der Auslagen (und früher auch Hilfsmittel), konnten über Spendengelder finanziert werden. Vielen Dank an die Menschlichkeit, die hier zum Tragen kommt!

Es ist also nicht alles verkehrt! Es gab Therapeuten, Orthopäden, Ärzte, Lehrer, Betreuer & Assistenzen, die zu Freunden geworden sind. Auch für diese menschliche Unterstützung sind wir unendlich dankbar 🤍.